Was ein Gas-Lieferstopp für die Industrie bedeuten würde
In elf riesigen Behältern rund um den Rennsteig brodelt es. Genauer gesagt: Tausende Tonnen flüssiges Glas, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, bei rund 1600 Grad Celsius. Der Energiebedarf dafür ist gewaltig: 1,3 Terawattstunden Erdgas brauchen die Werke von Wiegand-Glas in Südthüringen und Oberfranken jährlich, erzählt Geschäftsführer Nikolaus Wiegand. Das sind rund 0,1 Prozent des Gesamtverbrauchs in Deutschland. Mit acht Millionen Glasbehältern täglich stellt das Unternehmen nach eigenen Angaben rund ein Viertel der deutschen Produktion - und steht nun vor einem Problem.
Mit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine habe sich der ohnehin schon hohe Preis für das Gas vervierfacht. Und mit dem drohenden Förderstopp aus Russland droht der Glasindustrie noch Schlimmeres: Versiege der Gasstrom von heute auf morgen, würde das Glas kalt und aushärten. Die elf Schmelzwannen wären dann nicht mehr zu retten - ein Millionenschaden. «Normalerweise laufen die 10 bis 12 Jahre, werden dann kontrolliert gelöscht, abgelassen und neu aufgebaut», sagt Wiegand. Kurzfristig sei das schwer machbar - schon allein, weil es nur wenige Spezialfirmen gebe, die sich damit beschäftigen.
Die Sorge um die Gasversorgung treibt die energieintensive Thüringer Industrie um. Metall, Chemie, Glas, Keramik - überall werden große Mengen Erdgas gebraucht. Allein in Ostthüringen zählt die Industrie- und Handelskammer über 650 Betriebe in diesen Sparten. «Wird der Gasnachschub unterbrochen, müsste die Produktion in vielen Betrieben zurückgefahren oder sogar gestoppt werden», sagt die Leiterin des Geschäftsbereichs Wirtschaft und Technologie, Almut Weinert. Auch eine Sprecherin des Verbandes der Thüringer Wirtschaft betont: «Die Lage ist ernst und kann Unternehmen perspektivisch in Bedrängnis bringen». Gegenwärtig seien die Lieferungen aber gesichert.
Die Bundesregierung rief am Mittwoch die Frühwarnstufe im Notfallplan Gas aus. Eine Vorsorgemaßnahme, hieß es. Die Versorgung sei gesichert. Nun beurteilt täglich ein Krisenstab die Lage bei der Gasversorgung. Gleichzeitig ruft die Politik Verbraucher und Unternehmen zum Einsparen von Erdgas auf.
Dass das nicht so einfach ist, zeigt das Beispiel des Chemiewerks Bad Köstritz. «Einsparen geht bei uns nur, wenn wir einzelne Produktionslinien abstellen würden», sagt Geschäftsführer Lars Böttcher. Das würde dann aber definitiv zu Umsatzausfällen führen. Es sei schon so viel Gas wie möglich eingespart worden. Die Heizungen für die Gebäude seien wegen der steigenden Energiepreise im Winter etwa runtergefahren worden.
Beziffern kann Böttcher das an seiner Gasrechnung: Bei etwa gleicher Produktion habe das Werk 2020 rund 2,2 Millionen Euro für Erdgas gezahlt, 2021 lag der Betrag bei 4,5 Millionen - und allein im ersten Quartal 2022 rechnet er mit 4,5 Millionen Euro. Ein Teil davon könne weitergeben werden. Bestellungen mit längerem Vorlauf müssten nun aber zum vereinbarten Preis abgewickelt werden.
Laut dem Thüringer Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) sind die ökonomischen Folgen eines Ausfalls russischen Gases derzeit nicht zuverlässig abzuschätzen. Der dramatische Anstieg der Energiekosten sei aber für eine Reihe von Unternehmen existenzbedrohend oder könne das noch werden. «Es besteht die Gefahr, dass durch die drastisch erhöhten Energiepreise einige Geschäftsmodelle in ihrer bisherigen Form nicht mehr wirtschaftlich sein werden und Teile des Kapitalstocks auch der Thüringer Unternehmen entwertet werden.»
Der Energieexperte Karsten Kurth von der Industrie- und Handelskammer Erfurt nennt einen drohenden Gaslieferstopp «einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen kann». Er gehe davon aus, dass es zu einem Lieferstopp kommt. Unternehmen empfehle er in der gegenwärtigen Situation noch Gelassenheit - allerdings müssten sie sich eine Strategie überlegen.
Das versucht auch Wiegand-Glas. Ein kurzfristiges Umschwenken auf Strom als Energieträger sei in dieser Größenordnung nicht möglich, sagt Wiegand. Dafür brauche es neue Technologien, einen Ausbau der Umspannkapazitäten in der Nähe und einen starken Ausbau der erneuerbaren Energien. Zurück zum schweren Heizöl und den damit verbundenen erheblichen Emissionen will und kann das Unternehmen auch nicht - die Anlagen dafür sind längst abgebaut worden.
Bleibt die Vorbereitung auf den Worst-Case: «Wir beschäftigen uns gerade damit, wie wir die Schmelzwannen im schlimmsten Fall selbst kontrolliert stilllegen können.» Das Paradoxe an der Situation: Gerade werde so viel Glas nachgefragt wie nie. «Beim Absatz erleben wir gerade den besten Monat unserer Geschichte.» Erst vergangene Woche habe er eine neue Schmelzwanne im thüringischen Schleusingen in Betrieb genommen.
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