Trotz Kälte: Mensch schon vor 45.000 Jahren in Thüringen
Trotz eisiger Kälte: Der Homo sapiens besiedelte Mittel- und auch Nordwesteuropa schon deutlich früher als bisher bekannt. Funde aus der Ilsenhöhle in Thüringen belegen, dass moderne Menschen dort schon vor mindestens 45.000 Jahre lebten - damals war es etwa 7 bis 15 Grad kälter als heutzutage. Das zeige, wie gut sich schon der damalige Mensch an raue Umweltbedingungen anpassen konnte, schreibt ein internationales Forschungsteam um Jean-Jacques Hublin vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Zudem zeigen die drei in den Fachjournalen «Nature» und «Nature Ecology & Evolution» veröffentlichten Studien, dass Mensch und Neandertaler über Jahrtausende in Europa koexistierten - möglicherweise sogar mehr als 10.000 Jahre lang.
Die Funde aus dem Ort Ranis bei Saalfeld bringen gleich mehrere Annahmen von Paläontologen ins Wanken. Bisher dachte man, dass der moderne Mensch Europa erst vor etwa 40.000 Jahren besiedelte und nur vereinzelt früher auftauchte. Und bestimmte, teilweise beidseitig bearbeitete Steinklingen, die älter sind und auch in Nordwesteuropa auftauchten, wurden bisher Neandertalern zugeordnet, die schon viel früher auf dem Kontinent lebten und vor etwa 40 000 Jahren verschwanden.
Wer schuf die Steinklingen?
Doch in der Ilsenhöhle fand das Team um Hublin neben diesen sogenannten LRJ-Klingen Knochenreste, deren DNA eindeutig vom Homo sapiens stammt. Demnach gehen LRJ-Steinklingen, die unter anderem in Großbritannien entdeckt wurden, ebenfalls auf den Homo sapiens zurück.
«Die Fundstelle in Ranis erbrachte den Beweis für die erste Ausbreitung von Homo sapiens in die nördlichen Breiten von Europa», sagte Hublin, emeritierter Direktor des Leipziger Max-Planck-Instituts. «Es ist jetzt sicher, dass Steingeräte, von denen man dachte, dass sie von Neandertalern hergestellt wurden, definitiv von modernen Menschen stammen.»
Tausende Knochenfragmente
Die unmittelbar unter der Burg Ranis gelegene Ilsenhöhle wurde bereits in den 1920er und 1930er Jahren ausgiebig erforscht. Doch bei Grabungen nach 2016 schürfte das Team nun tiefer - und stieß unter dem eingestürzten Höhlendach auf tausende zersplitterte Knochenfragmente. Manche davon stammen eindeutig von modernen Menschen, andere von Tieren.
«Die archäozoologische Untersuchungen zeigen, dass die Höhle in Ranis abwechselnd von Hyänen, überwinternden Höhlenbären und kleinen Menschengruppen genutzt wurde», erklärte Ko-Autor Geoff Smith von der englischen Universität Kent. «Obwohl diese Menschen die Höhle nur über kurze Zeiträume nutzten, verzehrten sie Fleisch einer Reihe von Tieren, darunter Rentiere, Wollnashörner und Pferde.»
Raue, karge Landschaften
Isotop-Analysen von Pferdezähnen zeigten, dass in der Region insbesondere vor etwa 44.000 Jahren ein sehr kaltes Kontinentalklima vorherrschte. Damals glich die Gegend einer offenen Steppe wie im heutigen Sibirien. «Unsere Ergebnisse zeigen, dass selbst diese frühen Homo-sapiens-Gruppen, als sie sich über Eurasien ausbreiteten, schon in der Lage waren, sich an solch raue klimatische Bedingungen anzupassen», sagte Ko-Autorin Sarah Pederzani von der Universität La Laguna auf Teneriffa. «Bisher ging man davon aus, dass die Widerstandsfähigkeit des Menschen gegen kalte Klimabedingungen erst mehrere Tausend Jahre später entstand.» Möglicherweise zogen Menschen auf der Jagd nach größeren Tierherden sogar gezielt in die kalte Region.
Vor kurzem hatten Studien aus der Grotte Mandrin im südfranzösischen Rhone-Tal für Aufsehen gesorgt. Dort hatte ein Forschungsteam Hinweise auf Menschen gefunden, die 54 000 Jahre alt waren. Dies stieß in der Fachwelt zwar auf Zurückhaltung, doch das Team um Hublin schreibt: «Im Falle einer Bestätigung würde dies ein komplexes Mosaikbild für Europa ergeben, mit Gruppen von Neandertalern und Menschen schon vor 55.000 bis vor 45.000 Jahren.»
Für immer getilgt
Unklar ist, ob die frühen Bewohner der Ilsenhöhle dauerhaft in Mitteleuropa lebten oder nur saisonal nach Norden vorstießen, etwa in Form kleiner mobiler Jagdtrupps. Wie dem auch sei: Spuren im Erbgut heutiger Europäer hinterließen sie nicht. Die genetische Linie dieser frühen Menschen starb irgendwann aus.
Links
© dpa-infocom, dpa:240131-99-822131/3