Neustart: Neues Grünen-Minister-Duo wird vereidigt
Coup oder Wagnis? Mit Doreen Denstädt und Bernhard Stengele sollen zwei Grünen-Politiker ohne Regierungserfahrung ab Mittwoch zwei Thüringer Ministerien führen. Auch fachlich sind sie eher Quereinsteiger. Stengele übernimmt das Umwelt- und Energieministerium von Anja Siegesmund, die sich von der Politik verabschiedet hat, um neue Aufgaben zu suchen. Denstädt wird als erste schwarze Ministerin in Ostdeutschland das Justiz- und Migrationsministerium führen, das bis vor kurzem Dirk Adams geleitet hat, auf dessen Entlassung seine eigene Partei bestand.
Die Personalien kamen für viele in Thüringen überraschend, für die Grünen sind sie ein Komplett-Neustart beim Regierungspersonal. Am Mittwoch sollen Stengele und Denstädt im Thüringer Landtag vereidigt werden.
Viel Zeit für eine Einarbeitung bleibt den beiden nicht. Schon im Jahr 2024 soll ein neuer Landtag gewählt werden - spätestens im letzten Drittel des Jahres. «Ich habe keine 100 Tage, das ist mir klar. Geplant ist ein Sprintstart», sagte Denstädt der Deutschen Presse-Agentur. Migrationspolitik stehe auf der Tagesordnung ganz oben. Sie kündigte an, sich in ihren ersten Wochen als Ministerin einen Überblick verschaffen und mit einigen Kommunen über die Migrationspolitik sprechen zu wollen.
Zuvor hatte bereits Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) betont, dass die beiden neuen Regierungsmitglieder drängende Probleme zu lösen hätten. «Sie haben keinen Welpenschutz», hatte Ramelow gesagt.
Stengele stammt aus dem Allgäu (Baden-Württemberg) und ist von Beruf Schauspieler und Regisseur. Zwischen 2012 und 2017 war er Schauspieldirektor am Theater Altenburg Gera, kehrte dann vorübergehend nach Baden-Württemberg zurück. Im Jahr 2019 trat er für die Thüringer Grünen bei der Landtagswahl als Direktkandidat für den Wahlkreis Altenburger Land II an, wobei er mit einem Ergebnis von 5,6 Prozent hinter den Mitbewerbern von CDU, Linke, FDP und SPD landete und nicht in den Landtag einzog. Anfang 2020 wurde Stengele zusammen mit Ann-Sophie Bohm Landessprecher der Thüringer Grünen. Zu seinem Ministerium gehört auch der Energiebereich, der durch die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im vergangenen Jahr an Bedeutung gewonnen hat.
An den beiden Personalentscheidungen der Grünen hatte sich auch Kritik entfacht - so kamen Bedenken auf, den beiden könnte die nötige fachliche Qualifikation fehlen. Denstädt etwa ist Polizeihauptkommissarin, Diplom-Verwaltungswirtin und arbeitete zuletzt in der Polizeivertrauensstelle im Thüringer Innenministerium. Juristin ist sie allerdings wie schon ihr Vorgänger Adams nicht. Sie wisse, wie eine Behörde funktioniere, durch ihre Zeit als Streifenbeamtin kenne sie viele Probleme der Menschen, sagte sie.
Der Sprecher der FDP-Gruppe im Landtag, Thomas Kemmerich, bezweifelte ihre Eignung für den Posten. «Es ist keine gute Entscheidung, dass das Justizministerium nicht von einer Volljuristin geführt werden soll», erklärte er. Ausschlaggebend sei für die Besetzung des Postens nicht die Qualifikation gewesen, «sondern allein die Partei-Räson».
Bei Denstädt war die Kritik an der Personalentscheidung auch in rassistische und beleidigende Hetze im Internet abgedriftet. Die Polizei ermittelt.
«Das ist einfach nur das, was Frauen mit Migrationsgeschichte tagtäglich erleben. Und ich fand es gut, dass das jetzt stärker gesehen wird», sagte Denstädt. Neu sei diese Situation für sie nicht. «Ich hatte jetzt 45 Jahre lang Zeit, mich daran zu gewöhnen. Dass solche Hetze aus dem rechten Spektrum kommt, war klar, dass bestimmte Netzwerke da zusammen agieren, war ebenfalls vorhersehbar», sagte sie. Viele Kolleginnen und Kollegen hätten sich gemeldet und gefragt, wie es ihr gehe. Teils sei sie von Kollegen, die sie politisch nicht bei den Grünen verorten würde, in den sozialen Netzwerken verteidigt worden.
Ob Denstädt und Stengele auch als Spitzenkandidaten für die Grünen zur Landtagswahl 2024 ins Rennen gehen, ist offen. Nach Auffassung des Erfurter Politologen André Brodocz sind die Personalentscheidungen mit Blick auf die bald anstehende Wahl riskant. «Wir haben hier eine Ministerin und einen Minister, die im Land jenseits der Grünen weitgehend unbekannt sind», sagte Brodocz der Deutschen Presse-Agentur.
Anja Siegesmund habe in Thüringen bereits eine große Bekanntheit erreicht. «Dieser Personalisierungseffekt ist nicht zu unterschätzen heutzutage, weil mit Personen auch Vertrauen verbunden wird. Und Vertrauen ist eine starke Ressource, wenn es darum geht, Wahlentscheidungen zu treffen», sagte Brodocz. Die Partei müsse möglicherweise damit rechnen, um den Wiedereinzug in den Landtag kämpfen zu müssen.
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