Historiker: Reichkriegs- oder Russlandflagge vielen egal
Der Jenaer Historiker Jörg Ganzenmüller hält die Russlandnähe vieler Ostdeutscher für einen Ausdruck von deren Abwendung von der Demokratie. Es gebe aus seiner Sicht mehrere Gründe dafür, warum Menschen vor allem in Ostdeutschland beispielsweise mit Russlandflaggen durch die Straßen zögen, sagte Ganzenmüller der Zeitung «Freies Wort» (Samstag). Vielen ginge es «gar nicht um Russland, wenn sie mit russischen Flaggen demonstrieren oder russische Propaganda in den sozialen Medien reproduzieren». Vielmehr wollten sie ihre Unterstützung für ein autoritäres Gesellschaftsmodell zum Ausdruck bringen.
«Das heißt, wenn sie mit der Reichskriegsflagge oder mit der russischen Flagge durch die Straßen ziehen, meinen sie eigentlich dasselbe, das ist im Grunde austauschbar», sagte Ganzenmüller der Zeitung. Er hat eine Professur für Europäischen Diktaturenvergleich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist gleichzeitig Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar.
Es habe im Osten Deutschlands schon seit Jahrzehnten einen Bevölkerungsteil gegeben, der mit Sympathie und Interesse auf die Sowjetunion oder auf Russland geblickt habe, so der Historiker. «Diese Leute sind immer noch da und tun sich mitunter schwer, Russland allein für den Krieg in der Ukraine verantwortlich zu machen.»
Zudem hätten viele Ostdeutsche in den Nachwendejahren selbst negative Erfahrung mit dem Westen gemacht. «Putin verbreitet das Narrativ, Russland sei vom «kollektiven Westen» seit 1990 permanent übervorteilt und mit der NATO-Osterweiterung betrogen worden», sagte Ganzenmüller. Faktisch stimme das zwar nicht. «In Ostdeutschland führt dieses Narrativ nun aber bei vielen Menschen zu einer Solidarisierung mit Russland, da auch sie im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses die Erfahrung gemacht haben, vom Westen übervorteilt worden zu sein.»
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