Der Avatar im Unterricht: Hilfe für krebskranke Kinder
Er bewegt den Kopf, dreht sich im Kreis, schaut nachdenklich, freundlich oder traurig und meldet sich mit Blinklicht zu Wort: Seit diesem Sommer steht ein kleiner, weißer Roboter auf dem leeren Schulplatz von Paul. Seit Monaten konnte der Neunjährige - dessen Name ein anderer ist, weil seine Familie anonym bleiben will - wegen eines Hirntumors nicht mehr zur Schule gehen. Während der kräftezehrenden Therapie mit langen Aufenthalten im Krankenhaus brach der Kontakt zu seinen Klassenkameraden fast vollständig ab. Dank des Avatars kann der Drittklässler nun wieder dem Unterricht folgen und ist trotz Abwesenheit bei seinen Klassenkameraden.
«AV1 hat Paul geholfen, dass er den Anschluss an seine Klasse nicht verliert», sagt Heilpädagogin Mireille Le Lièvre von der Elterninitiative für krebskranke Kinder Jena, welche die Familie von Paul betreut. Der Verein hat den Avatar für die jungen Patienten angeschafft. Es ist den Angaben zufolge der Erste in Thüringen und wird als Modellprojekt von der Techniker Krankenkasse (TK) über drei Jahre finanziert. «Mit so einem Avatar sind die Chancen sehr gut, dass an Krebs erkrankte Kinder die Klasse nicht wiederholen müssen.»
Der nur etwa 30 Zentimeter große Avatar überträgt Bild und Ton aus dem Klassenzimmer an das Smartphone oder Tablet des erkrankten Schülers, wie Le Lièvre erklärt. Das Kind kann den Avatar mittels App aus dem Klinikbett oder vom heimischen Sofa aus steuern - sich melden, eine Frage stellen oder in der Pause mit seinen Freunden quatschen. Leuchten die LEDs auf dem Kopf des Roboters blau, wissen Lehrer und Mitschüler, dass Paul gerade nicht ansprechbar ist.
«Die Avatare sind noch relativ neu auf dem Markt, haben uns aber sofort angesprochen», sagt die Geschäftsführerin der Elterninitiative, Katrin Mohrholz. Der Verein betreut jährlich rund 30 bis 35 neu erkrankte Kinder, die am Jenaer Uniklinikum stationär behandelt werden und ist nach eigenen Angaben die einzige Beratungsstelle für Eltern mit krebskranken Kindern in Thüringen. Knapp 5000 Euro koste ein Exemplar, hinzu kommen Servicegebühren von jährlich bis zu 800 Euro. Mit dem Avatar werde zwar Bild und Ton aus dem Klassenraum übertragen, Aufzeichnungen seien aber aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich. Auch die erkrankten Kinder seien nicht sichtbar.
Jährlich erkranken nach offiziellen Zahlen in Deutschland mehr als 2000 Kinder an Krebs. Die Avatare bieten die Möglichkeit, dass sie besser ihre sozialen Kontakte halten können, betont der Leiter der TK-Niederlassung, Guido Dressler. Durch die Chemotherapie werde das Immunsystem stark angegriffen und der Körper geschwächt. Während der Akuttherapie sind die kleinen Patienten daher oftmals isoliert.
«Die Avatare geben den Kindern so viel», ist auch die Geschäftsführerin der Thüringischen Krebsgesellschaft, Astrid Heßmer, von den Robotern überzeugt. «Die psycho-onkologische Behandlung wird dadurch enorm unterstützt.» Die ersten Prototypen wurden laut Heßmer 2019 in Schleswig-Holstein erprobt.
Ein Stück Normalität in einer absoluten Ausnahmesituation: Paul hat mit dem Avatar nicht nur die Angst verloren, nach langer Fehlzeit wieder in die Schule zurückzukehren. Mit dem Kuchen von Mama und dem Roboter konnte er auch seinen Geburtstag im Kreise seiner Mitschüler feiern. Wenn Paul bald selbst wieder die Schulbank drückt, wechselt der Avatar dann zu einem anderen krebskranken Kind.
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