Corona-Maßnahmen und Sterben: «Pandemie der Trauer»
Anfragen nach Trauerbegleitung sind seit Beginn der Corona-Pandemie durchschnittlich um 30 Prozent gestiegen. Diese Zahl nannte die Geschäftsführerin des Thüringer Hospiz- und Palliativverbandes (THPV), Ilka Jope, basierend auf Angaben der Hospizdienste. Trauerarbeit habe sich in der Pandemie zudem stark verändert. «Viele Trauerprozesse erscheinen deutlich erschwerter und erfassen teilweise das ganze Familiensystem», so Jope. Menschen würden zunehmend nach dem Verlust eines Familienmitglieds vom Psychologen oder Hausarzt an den Hospizdienst verwiesen.
Jope spricht von einer «fürchterlichen Nebenwirkung der Pandemie»: «Ich denke dabei zuallererst an die unzähligen Menschen, die in der Pandemie vor den verschlossenen Türen der Pflege- und Betreuungseinrichtungen und Krankenhäuser standen und zum Teil noch stehen. Keinen Zugang erhalten haben, um ihre sterbenden Angehörigen zu begleiten und von ihnen angemessen Abschied zu nehmen. In vielen Fällen, sie überhaupt nicht mehr sehen konnten, weder lebendig noch tot. Bis heute nicht «begreifen», dass sie wirklich nicht mehr da sind», sagte Jope. Noch immer seien Menschen im Schock und in der Trauer, vielfach unfähig das Geschehene wirklich zu reflektieren.
Der THPV ist der Dachverband für die Hospiz- und Palliativarbeit in Thüringen. Er hat derzeit 54 Mitglieder, darunter unter anderem fast alle ambulanten und stationären Hospizdienste für Erwachsene wie auch Kinder- und Jugendliche. Die meisten der 34 Hospizdienste in Thüringen haben nach THPV-Angaben in der Pandemie ihre Angebote aufrechterhalten können. Einige der stationären Hospize waren zwischenzeitlich wegen Infektionen von Gästen oder Personal geschlossen. In den meisten der 19 Palliativstationen wurden Besuche analog zu den stationären Hospizen ermöglicht.
«Das Anliegen und die Idee der Hospizbewegung haben sich nicht verändert, die Wege zu den Bedürftigen schon», sagte Jope. Es seien kreative Lösungen gefunden worden, um Menschen per Telefon, Brief und Video weiter begleiten zu können. Auch der Begleit- und Trauerspaziergang sei neu entdeckt worden. Aus Sicht vieler Ehrenamtlicher seien die Corona-Bestimmungen dennoch «ungerecht und unmenschlich» gewesen. Geholfen hätten all jene Einrichtungen, die «beherzt und couragiert den Rahmen der Thüringer Infektionsschutzverordnung umfänglich genutzt haben, um Familien den durchgängigen Kontakt zu ermöglichen».
«Komplexe Trauerbegleitungen», wie es sie seit der Pandemie brauche, könnten nicht mehr nur von Ehrenamtlichen geleistet werden, sondern bräuchten fachliches Verständnis. In Thüringen gibt es rund 100 ausgebildete Trauerbegleiterinnen und -begleiter in den 34 ambulanten Hospizdiensten. Zwei Jahre Pandemie haben aber auch hier Spuren hinterlassen. «Das Netzwerk ist geschwächt», sagt Jope.
Viele Ehrenamtliche gehörten zur Risikogruppe. Einige seien selbst an Covid erkrankt oder hätten sich aufgrund der Rahmenbedingungen in der Hochphase der Pandemie neu orientiert. Erst seit Mitte 2021 fänden wieder regelmäßig Kurse statt, in denen neue Ehrenamtliche ausgebildet werden. Das Interesse daran ist laut Jope aber «ungebrochen groß».
«Es stellen sich klare Forderungen für die Zukunft: Sterbende Menschen dürfen nicht isoliert und ihre Angehörigen nicht ausgesperrt werden», sagte Jope. Es brauche Begleitung und Abschiednahme, wenn ein Familienmitglied stirbt.
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